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Text aus dem Booklet zur Sinfonie No. 3 in h-moll, Seite 4-7, col legno 2001 - WWE 20078

  

Zur Dritten Symphonie von Martin Scherber

 

Um die Wende zum 20. Jahrhundert erfolgte ein dramatischer Bruch in der Entwicklung der Musik: mit Schönbergs Zwölftonkompositionen begann die Abkehr von der Tonalität, zugleich auch die Hinwendung zu konstruktivistischen Techniken, die eine neue Sprache für den künstlerischen Ausdruckswillen schufen. Martin Scherbers Dritte Symphonie geht einen ganz anderen, eigenen Weg, der den Bruch mit dem in Klassik und Romantik Erreichten vermeidet, aber zugleich in neue, tiefere Dimensionen führt. Diese ganz aus innerem Erleben gestaltete, in Metamorphosen lebendig sich entfaltende Musik verdankt ihr Entstehen nicht einer erdachten Konstruktion, sondern dem in Konzentration geschulten meditativen Erleben des Komponisten.

 

So knüpft Scherbers Dritte Symphonie einerseits unüberhörbar an Bruckners symphonisches Werk an. Schon die im ersten Takt einsetzende und im Verlauf der Symphonie insbesondere in Steigerungsphasen immer wieder auflebende ostinate Rhythmusfigur erinnert deutlich z. B. an Bruckners 6. Symphonie. Diese Rhythmusfigur überstrahlt das in den tiefen Stimmen sich über 46 Takte entfaltende Thema. Auch das Einmünden in eine „klangmächtige Schlussfeier” (W. Abendroth) findet Vorläufer in Bruckners symphonischem Schaffen. Aber über den Erinnerungen an Bekanntes, Vertrautes, das naturgemäß leichter ins Bewusstsein dringt, eröffnen sich dem Hörer zugleich Eindrücke und Erlebnisse, die auf Neues, bisher Unerschlossenes weisen.

 

Scherbers Dritte ist nicht in Sätze unterteilt, gleichwohl bemerkt man eine innere Struktur, die sich bei näherer Analyse als Zwölfgliedrigkeit offenbart. Jeder Abschnitt bringt wieder ganz neue Facetten, Eindrücke, so dass der Hörer staunend in Erlebniswelten geführt wird. Der Zusammenhang dieser Abschnitte wird nicht nur durch die Klammer der Einsätzigkeit bewirkt, viel bedeutsamer ist der innere Faden, der sich durch die ganze Symphonie zieht: alles entsteht und entwickelt sich aus Motiven des Themas. „Alles” bedeutet hier auch, dass in den verschiedenen Stimmen immer der Bezug zum Thema gewahrt bleibt, dass nicht nur eine horizontale „Durchführung” in einer Stimme erfolgt, sondern die „begleitenden” Instrumente ebenfalls Motive und deren Varianten aufgreifen und damit eine immense vertikale Dichte der inneren Beziehungen entsteht. Anders als bei Bruckner werden auch keine monumentalen Blöcke hingestellt, erfolgen keine abrupten Brüche und Umschwünge: die Symphonie entwickelt sich stets in auch logisch mitvollziehbarer Weise durch motivisches Metamorphosieren. Mächtige Steigerungswellen und ihr Ausklingen, Wechsel von Stimmungen, von Licht und Schatten geben der Symphonie einen inneren atmenden Rhythmus.

 

Bruckner hat seine Symphonien nach den Regeln der Kontrapunktik gestaltet, hat mit Akribie die formale Ausformung bis in metrische Details vorgenommen. Um das Neue in Scherbers Symphonien zu verstehen, muss seine persönliche Weiterentwicklung des Komponierens betrachtet werden. Ausschlaggebend war für ihn Goethes Entdeckung der Metamorphose als Grundprinzip organischen Werdens und Vergehens. Die Formen des Lebendigen erkannte Goethe als Varianten eines zugrundeliegenden Typus, wie etwa die unterschiedlichen Gliedmaßenformen von Delphin, Pferd und Mensch einen gemeinsamen Grundaufbau besitzen. Den Schlüssel für seine Fähigkeit, Metamorphosen zu erkennen, finden wir in einer Äußerung Goethes aus dem Jahre 1819 (Über Purkinje): „Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloss und mit niedergesenktem Haupte mir in der Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen. Es war unmöglich, die hervorquellende Schöpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte sich nicht.” Goethe erlebte die kontinuierliche, in einem Eigenleben innerlich sich vollziehende Metamorphosetätigkeit in sich selbst und fand in seinen botanischen und zoologischen Studien dieselbe Gesetzmäßigkeit als gestaltendes Prinzip in der lebenden Natur.

 

Scherber hat in steter Übung und Schulung diese Fähigkeit auf musikalischem Felde in sich gestärkt und entfaltet. Sein musikalisches Schaffen verlief nicht „komponierend” im Wortsinn, also „zusammensetzend”, sondern mehr und mehr als ein innerlich erlebtes Sich-Entfalten der Symphonie. Er beschrieb es selbst als die Entfaltung aus einem musikalischen Keim – einem Motiv oder Thema, sogar nur aus einem Ton – für den er in innerer Ruhe und Konzentration den seelischen Boden bereitete. In der Tat spürt man beim Anhören der Dritten allenthalben diese Lebendigkeit der Stimmen, die vielfältig miteinander korrespondieren und bei allem Eigenleben stets ihren Zusammenhang mit dem Ganzen bewahren.

 

Nicht von ungefähr drängen sich daher bei der Beschreibung dieser Musik dem Lebendigen entnommene, biologische Begriffe auf. Es ist eine organische Musik, deren Stimmen sich entwickeln, verwandeln und aufeinander beziehen. So wie Goethe bei seinem inneren Metamorphose-Erleben von einer „hervorquellenden Schöpfung” sprach, erlebte Martin Scherber seine Werke als in ihm sich in einem Eigenleben entwickelnde Gebilde, weshalb er es später vorzog, die Symphonie als „durch ihn entstanden” zu bezeichnen.

                                                                                          Henning Kunze

 

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